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ARCHIV HUMBOLDT LAB DAHLEM   (2012-2015)

Bedeutungen schichten / Projektbeschreibung

Informationen in extenso zum Zwecke der Konzentration

von Agnes Wegner

Museumsobjekte haben im Allgemeinen vielfältige Kontexte – etwa den ihres Ursprungs, ihrer Herstellung und ihres Gebrauchs oder ihrer jeweiligen Sammlungs- und Rezeptionsgeschichte. Die Frage nach der Ausstellbarkeit dieser Kontexte und der daraus resultierenden Wirkung ist in der Museumsarbeit keinesfalls neu. Sie stellt sich jedoch immer wieder und gerade dann, wenn Objekte aus zeitlich und geografisch weit entfernten Regionen stammen und den BetrachterInnen durch bloße Anschauung nicht (selbst-)verständlich sind. Eine Situation, die für die meisten der 500.000 Gegenstände der Museen in Dahlem aus dem historischen Sammlungsbestand grundsätzlich gegeben ist.

Also wie, aus wessen und aus welchen Perspektiven sollen Objekte aus diesen ethnologischen Sammlungen präsentiert werden? Fragen, die für die inhaltlichen und gestalterischen Planungen des Humboldt-Forums zentral sind. Sie wurden daher im Auftaktworkshop „Fragen stellen“ des Humboldt Lab Dahlem im Mai 2012 diskutiert und für ein Lab-Projekt empfohlen. Der Hamburger Ausstellungsarchitekt und Kurator Andreas Heller setzte das Recherche- und Ausstellungsvorhaben unter dem Titel „Bedeutungen schichten“ um.

Vier aus Fünfhunderttausend

Zahlreichen Vorgesprächen und einem weiteren Workshop folgte die Auswahl von vier Objekten, die aus unterschiedlichen Kulturen, Regionen und Zeiten stammen: ein persisches Kalligrafieblatt von 1900; ein Mayakopf aus Guatemala, der 1899 in die Sammlung kam; ein indisches Tempelbild (Picchvai) aus dem 19. Jahrhundert und Knotenschnüre (Khipu) der Inka, die auf die Zeit zwischen 1400 - 1532 datiert werden. Die Objekte entstammten nicht nur unterschiedlichen Kontexten, auch die wissenschaftliche Faktenlage war ungleich bekannt oder dokumentiert und lieferte damit eine sehr heterogene Ausgangslage für das Projekt. Für die Präsentation wollte das Team um Andreas Heller darum möglichst viele Inhalte aus unterschiedlichen Blickwinkeln mittels diverser Medien verfügbar machen.

In einzeln begehbaren Boxen wurden die vier Objekte jeweils ausgestellt und ihre Geschichte(n) erzählt. Auf den Außenwänden war weiß auf schwarz die Subjektivität und Zufälligkeit der Auswahl aus den über 500.000 Objekten erläutert, wurden Fragen zum Vorgehen offengelegt und Zweifel an einer erwünschten Objektivität geäußert. Die Innenwände waren nach Kategorien unterteilt und mit den Begriffen „Biografie“, „Ästhetik“, „Funktion“ und „Rezeption“ überschrieben. In jedem Objektraum stand darüber hinaus ein Tisch mit Hockern, der die BesucherInnen dazu einlud, Platz zu nehmen und sich auf die Ausstellung einzulassen.

Am Beispiel eines Objekts soll hier das Ausstellungskonzept beschrieben werden. „Sharad Purnima Picchvai / Tempelbild zur Krishna-Verehrung, Inv.-Nr.: I 10008, 304 x 296 cm, Malerei auf Textilgewebe; Deckfarben auf Baumwollgewebe, 19. Jahrhundert“.1 Die Kuratorin Martina Stoye hatte bereits über die hinduistische Stoffmalerei mit der Darstellung des Gottes Krishna geforscht und konnte ihr Wissen unmittelbar in das Projekt einbringen. In der Kategorie „Funktion“ waren Informationen zu ikonografischen Aspekten, der religiösen Nutzung sowie über die Zusammenhänge zur Krishna-Verehrung aufgeführt. Bei „Ästhetik“ fanden sich Angaben zu den beteiligten KünstlerInnen, den Materialien und zur Technik des Kunsthandwerks. Direkt auf die Tischplatte waren „biografische“ Details gedruckt: der Ankauf des Picchvai im Jahr 1966, seine Präsentation in der Dauerausstellung der Dahlemer Museen und sein Weg ins Depot, wo er seit mehreren Jahren aufbewahrt wird. Die Objektkarteikarte legte mit der spärlichen Zeile „M. Chand, New York“ einen Pfad zur/zum heute nicht mehr bekannten VerkäuferIn. Unter „Rezeption“ erfuhr man von gegenseitigen Beeinflussungen indischer und europäischer Kunstgeschichte. Auch über die in Westeuropa in den 1970er Jahren stattfindende Popularisierung indischer Textilobjekte als Wohndekor sowie über George Harrisons Krishna-Verehrung und seinen weltberühmten Song „My sweet Lord“ war hier zu lesen. Der Song selbst wurde als Audioloop eingespielt, genauso ein Stück von Ravi Shankar.

Die anderen drei Ausstellungskuben folgten der gleichen inhaltlichen Gliederung und präsentierten ähnlich viele Texte, stellten aber noch zusätzliches Filmmaterial aus: Ein Workshop-Mitschnitt dokumentierte die Methode der AusstellungsmacherInnen beim Herantasten an den Khipu durch ein Gespräch mit der Restauratorin Lena Bjerregaard; in einem Video waren die Hände der Künstlerin Shahla Safarzadeh beim Schönschreiben (der Kalligrafie) zu sehen und über den Mayakopf lief in einer Filmmontage künstliches Blut, um ein Opferritual anzudeuten.

Bezugspunkte für die weitere Humboldt Lab-Arbeit

Die vielschichtigen, je einem Objekt gewidmeten Leseräume waren der Versuch, die Vielfalt an Bedeutungen und Informationen von Objekten aufzuzeigen. Ebenso sollte dokumentiert werden, dass die finale Präsentation ein gemeinsamer Prozess von AusstellungsgestalterInnen, KuratorInnen und WissenschaftlerInnen ist.

Das Ausstellungsexperiment „Bedeutungen schichten“ polarisierte stark. Die Fürsprecher verteidigten die Kuben als räumlich abgegrenzte, konzentrierte Zonen, die eine gezielte und intensive Auseinandersetzung mit nur einem Objekt außerhalb der sonstigen Dauerausstellungsflächen ermöglichten. Besonders die Gestaltung mit einem zentralen Tisch, der neben der individuellen Lektüre auch Gesprächsrunden über das Gelesene zuließ, wurde als wünschenswertes Element für zukünftige Ausstellungen hervorgehoben. Die von einem Dahlemer Kurator ausgerufene Charakterisierung „Trutzburgen des kuratorischen Texts“ fasst hingegen treffend alle anderen kritischen Stimmen zusammen. Sie fanden das Objekt vor lauter Text erschlagen und behaupteten leidenschaftlich, es gar nicht erst finden zu können. Bemängelt wurde eine individuelle Autorschaft – sie war im Projekt nicht angelegt und daher in den Texten auch nicht ausgewiesen. Eine erkennbare Multiperspektivität wäre wünschenswert gewesen.

Die Zuspitzung der Idee, möglichst viele Informationen über ein Objekt zur Verfügung zu stellen, zeichnete das Projekt aus und machte es für das Humboldt Lab immer wieder zum gedanklichen Bezugspunkt. Die einzelnen Boxen lieferten anschaulich einen Diskussionsbeitrag zur Gestaltung von extremen Textmengen im Ausstellungskontext und zu der damit einhergehenden Frage nach der Verweildauer im Ausstellungsraum. Wird das Angebot, ausführlich zu lesen, angenommen? Oder werden vertiefende Texte vor oder nach dem Ausstellungsbesuch auf der Website oder eher im Begleitkatalog gelesen und sollten von daher für das zukünftige Humboldt-Forum nur dort angeboten werden? Ist es ein Vorteil, den kompletten Text zu sehen, anstatt ihn mit einer Geste Stück für Stück auf einem Tablet herbeiwischen zu können? Wie stehen andere Medien dazu im Verhältnis? Bereichern oder behindern sie sich gegenseitig?

„Bedeutungen schichten“ war ein Experiment in überbordender und intensiver Kontextualisierung von Museumsobjekten. Die vielfältigen Erfahrungen und Erkenntnisse sind für die weitere Arbeit im Humboldt Lab Dahlem mehr als richtig und wichtig.

 

1 Die anderen Objekte waren: Übungsblatt, Inv.-Nr.: IB 13691, 28 x 20,4 cm, Kalligrafie (Papier, Tinte), Persisch; 19. Jahrhundert, Sammlung Friedrich Spuhler, Sammlungszugang 1989; Mayakopf, Inv.-Nr.: IV Ca 21664, 28 x 17 x 26 cm, Quen Santo, Guatemala, Eduard Seler, Sammlungszugang 1899; Khipu, Inv.-Nr.: V A 42593, 55 x 35 cm, Baumwolle/Wolle – gedreht, Inka; 1400 - 1532, Peru; Fundort: Pachacamac, Wilhelm Gretzer (Sammler); Julius van der Zypen (Mäzen), Sammlungszugang 1907.


Agnes Wegner ist seit Juli 2012 Leiterin der Geschäftsstelle des Humboldt Lab Dahlem.


Weiterführende Texte zu diesem Projekt finden Sie hier.