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ARCHIV HUMBOLDT LAB DAHLEM   (2012-2015)

Springer, nochmals / Positionen

Der falsche Ort als kreativer Freiraum

von Jennifer Allen

Das 2011 erschienene Buch „The Foreigner“ von Richard Sennett hat einen vielsagenden Untertitel: „I look in the mirror and see someone who is not myself“. Ich blicke in den Spiegel und sehe einen, der nicht ich ist. Mit diesem Satz könnte man auch die Erfahrung im Angesicht der Arbeit „Mirror Mask“ von Kader Attia beschreiben. Der Künstler hat zwei traditionelle Masken aus der Afrika-Sammlung des Ethnologischen Museums mit kleinen Spiegeln besetzt. BesucherInnen, die in die Vitrinen lugen, erhaschen verwundert einen Blick auf ihre eigenen Gesichter, so wie man sich früher überraschend selbst in einem Schaufenster voller Videokameras und Fernsehern entdecken konnte oder sich heute über Überwachungsbildschirme flimmern sieht.

Während Überwachungsbildschirme uns in unserer unmittelbaren Umgebung spiegeln, konfrontiert Attias Arbeit das Vertraute mit dem Unähnlichen. Woher wir auch kommen, unsere Gesichter verbinden sich mit einer afrikanischen Maske: Unser Konterfei legt sich über die für das Gesicht eines anderen, ein anderes Ritual gestaltete Vermummung, und wir betrachten nicht mehr einfach nur Kunstschätze in einem Museum. Da Attias Spiegel vielfältig aufgebrochen sind, sehen wir unsere Gesichter nicht nur bloß auf die Masken gesetzt, sondern zugleich auch in vervielfältigter und zersplitterter Form. Die Vitrinenbeleuchtung erzeugt weitere Reflexe, wie auf einer Diskokugel. Während die Maske völlig unversehrt bleibt, erinnern unsere Spiegelbilder an falsch zusammengesetzte multiple Persönlichkeiten, aus denen sich kein ganzes Bild, keine ganze Oberfläche, kein ganzes Gesicht bilden lässt.

Dem Spiegel wohnt ein weiterer Gedanke inne, der die unsichere Lage der AusländerInnen thematisiert. Kader Attia, Nevin Aladağ, Sunah Choi und Mathilde ter Heijne eint dieser mehrdeutige Status; alle wurden sie im Ausland geboren und leben heute auf Dauer in Berlin, ein wenig wie die Besitztümer des Ethnologischen Museums. Um in seinem Buch eine Verbindung zwischen Spiegel und AusländerInnen herzustellen, greift Sennett zu einer ungewöhnlichen Deutung von Édouard Manets Gemälde „Bar in den Folies-Bergère“ (1882), der berühmten Darstellung einer traurigen Kellnerin hinter dem Tresen des berüchtigten Pariser Theaters. Wie viele KunsthistorikerInnen vor ihm merkt auch der Soziologe ordnungsgemäß an, dass ihr Bild im Spiegel, der den Bildhintergrund darstellt, optisch ein Ding der Unmöglichkeit ist: Der Spiegel zeigt nicht nur ihren Rücken, sondern auch das Gesicht eines Mannes, der mit ihr spricht und im Gemälde sonst nicht zu sehen ist. Was Sennett aber darin erkennt, ist nicht die eigenwillige Perspektive des Malers, sondern ein Versuch, sich auszumalen, was eine gute Sache daran sein könnte, sich am falschen Ort zu befinden. Weder Manet noch die Barfrau noch der Mann stehen für den Ausländer oder die Ausländerin. Es ist die Perspektive selbst – die Lücke zwischen Spiegel und Spiegelbild, die Koexistenz des Vertrauten mit dem Fremden –, in der sich die Deplatzierung der AusländerInnen als ganz eigener kreativer Freiraum manifestiert. "Displacement creates value", „Deplatzierung ist Wertschöpfung“, schreibt Sennett, „es schafft einen reflexiven Wert, also einen, der dem Betrachter als Teil des Betrachteten zugemessen wird, und einen Wert, der der wirklichen Welt selbst zugemessen wird, deren Wesen und Gestalt abzuschätzen wir durch den Blick auf sein Zerrbild in einem Spiegel gezwungen sind.“

Attia, Aladağ, Choi und ter Heijne gelangen auf verschiedenen Wegen zu dieser Perspektive. Attia nutzt Spiegel im Wortsinn, während Aladağ, Choi und ter Heijne sich anderen Medien zuwenden, die eine ähnliche Verdoppelung mit gleichzeitigen Verzerrungsmöglichkeiten schaffen. Nevin Aladağs plastische Installation „Musikzimmer“ findet sich in der Abteilung Musikethnologie. Sie zeigt eine Kreuzung aus Möbelstücken und Musikinstrumenten, die einerseits wie die Gitarren und Trommeln in den umstehenden Vitrinen aussehen, andererseits aber auch wieder nicht. Ihr Stuhl ist unter den Armlehnen mit Saiten bezogen wie ein Zupfinstrument; an ihrem Tisch hängen Röhrenglocken wie Fransenbesatz; ihre runde Fußbank lässt sich auch als Trommel verwenden. Teil der Multimedia-Installation „Pulling Matter from Unknown Sources“ von Mathilde ter Heijne in der Afrika-Sammlung ist ein transportabler Altar des Vodou-Priesters Togbé Hounon Hounougbo Bahousou aus Togo, der in Berlin-Weißensee wohnt und ter Heijne zur Priesterin ausbildet. Auf Reisen nach Togo und Benin im Jahr 2014 filmte die Künstlerin/Priesterschülerin Vodourituale, die auf fünf Monitoren gezeigt werden. Manche BesucherInnen werden einzelne Elemente der Rituale wiedererkennen; der größte Bildschirm jedoch zeigt fantastisch verfremdete, abstrakte Bilder, eher Science-Fiction als ethnologische Dokumentation: eher futuristisch als religiös, traditionsgebunden oder archaisch. Wie Nevin Aladağs musikalisches Mobiliar passen ter Heijnes Vodou-Videos zu den afrikanischen Fetischskulpturen in den umstehenden Vitrinen und tun es auch wieder nicht.

Für die Südsee-Sammlung hat Sunah Choi zwei Installationen entwickelt, die Verdoppelung und Verzerrung auf direkterem Weg zum Ausdruck bringen. Für „Projektion“ wählte die Künstlerin mehrere kleine Stücke aus der Sammlung, von einem Muschelarmband aus Samoa bis zu einem Angelhaken aus Neuseeland; sie legte sie auf ein Glas in einer traditionellen Vitrine, aber auf von polynesischem und melanesischem Tapa-Rindenbaststoff inspirierte geometrische Muster, ausgeschnitten aus schwarzem und weißem Polypropylen. Die Objekte und die Tapa aus Plastik – mit der Vitrinenbeleuchtung von oben angestrahlt – werfen seltsame Schatten auf den Vitrinenboden, wie von Gespenstern, die in einem Raster verschwinden. Bei „Belichtet“ nutzt Choi eine ähnliche Methode. Wieder sucht sie sich Objekte aus der Sammlung aus, arrangiert sie jedoch auf einer Glasplatte und erstellt neun cyanblaue Fotogramme. „Projektion“ stellt die Objekte weiter zur Schau, „Belichtet“ zwingt uns, ihre ursprüngliche Gestalt aus ihren tiefblauen verschatteten Umrissen abzuleiten: ein Haken, ein Fischernetz, eine Matte vielleicht.

Die KünstlerInnen sind in Berlin so fremd wie die Objekte aus dem Museum. Anstatt sich mit den Ausstellungsstücken zu identifizieren oder zu versuchen, sie an ihren Ursprungsort zurückzubringen, machen sie diese mit ihren Arbeiten gleichzeitig vertrauter und exotischer. Wie Manet nutzen sie Spiegelungen, um den Zustand der Deplatzierung in einen klar definierten, positiv besetzten kreativen Freiraum zu verwandeln. Sie tun eine Kluft zwischen ihrer Arbeit und der Sammlung des Museums auf, verkürzen dabei aber die geografische Distanz, die durch den Exotismus einer ethnologischen Sammlung entsteht. Wenn wir unser Spiegelbild in Attias „Mirror Mask“ erhaschen, werden wir Teil einer afrikanischen Maske, anstatt sie als Kultobjekt eines anderen, fernen Kontinents zu betrachten. Aladağs musikalisches Mobiliar sieht aus wie vom Flohmarkt nebenan oder gar wie aus dem Wohnzimmer von FreundInnen. Ter Heijnes Altar zeigt uns, dass Vodou-Rituale nicht nur im fernen Togo oder Benin abgehalten werden, sondern auch gleich bei uns um die Ecke in Berlin. Die Verdoppelungen in den Arbeiten von Choi erlauben uns die viel unmittelbarere Erfahrung, Objekte aus ihren verfremdeten Schatten zu erkennen. Wir blicken in die Museumsvitrinen und erwarten Widerspiegelungen exotischer Stämme aus fernen Ländern; stattdessen entdecken wir Spiegelungen unserer selbst, unserer Umgebung und Existenz.

Übersetzung aus dem Englischen von Robin Detje


Dr. Jennifer Allen lebt als Autorin in Berlin.