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ARCHIV HUMBOLDT LAB DAHLEM   (2012-2015)

Fotografien berühren / Projektbeschreibung

Neue Erzählstrategien für historische Aufnahmen

von Michael Kraus

Die Idee zu „Fotografien berühren“ entstand während der Aufarbeitung der historischen Fotosammlung zu Lateinamerika am Ethnologischen Museum in Berlin. Zwei Jahre lang habe ich mich mit diesen Fotografien auseinandergesetzt. Zwei Jahre lang habe ich nahezu täglich die Menschen auf diesen Bildern betrachtet. Was auffiel, war der geringe Dokumentationsgrad der zahlreichen Porträt- und Typenfotografien. Über das Leben der Abgebildeten wissen wir in vielen Fällen nahezu nichts. Lediglich die Ethnie, der Fotograf sowie Aufnahmedatum und -ort sind vermerkt. Wurden die Personen auf den Bildern überhaupt als Individuen wahrgenommen? Oder interessierten sie ausschließlich als Repräsentanten eines Kollektivs, als Merkmalsträger einer Kultur?

So entstand die Idee zu einer Ausstellung, die nach Persönlichem, nach Einzelschicksalen und nach Begegnungskontexten fragt. Wer waren diese Menschen? Was lässt sich heute noch aus ihrem Leben erzählen? Lassen sich für diese Bilder andere Narrative entwickeln als die „klassischen“ Verwendungsformen wie die Illustration ethnografischer Erläuterungen oder, seltener, die Präsentation als fotografisches Kunstwerk – Narrative, die die Distanz schaffende Verwendung von Sammelkategorien zu unterlaufen helfen? Gibt es eine Erzählform, die uns diese Menschen auch heute noch nahebringt?

Der Weg der Bilder – Entstehungskontexte und Verwendungszusammenhänge

Die Gestaltung der Ausstellung übernahm das Berliner Büro für Szenografie chezweitz. Eine der Vorgaben an die Gestalter war es, die Fotografien an einer Stelle möglichst lebensgroß zu zeigen. Die BesucherInnen sollten den Menschen auf den Bildern in die Augen schauen können. Mit dieser „Augenhöhe“ war dabei zu keiner Zeit die Illusion einer gleichberechtigten, von kontextuellen Asymmetrien freien Annäherung intendiert – die gab es nicht und sie dürfte auch heute nur schwer zu finden sein. Doch zählte es zur Ausgangsidee, die Person auf dem Bild in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken und nicht den Objektstatus der Abbildung oder die Aura des historischen Originalabzugs.
chezweitz entwickelte hierfür die Idee der „living images“, also der digitalen Animation ausgewählter Fotografien. Des Weiteren schlug das Büro vor, mittels Overheadprojektoren und Folien die Anmutung einer Archivsituation zu erstellen. So konnte eine vergleichsweise große Menge an Fotografien gezeigt werden. Zugleich ermöglichte die gewählte Präsentationsform den BesucherInnen, die Bildauswahl an der Wand wie auch die damit verbundene Suche nach Informationen und Eindrücken selbst zu beeinflussen. In der gemeinsamen Diskussion wurde dieser Entwurf um einen weiteren Raum erweitert, in dem die Erzählungen zu ausgewählten Bildern Platz fanden.

Betraten die BesucherInnen die Ausstellung durch den vorgesehenen Eingang, so trafen sie zunächst auf drei von der Decke gespannte Leinwände, auf die lebensgroß und in wechselnder Reihenfolge 21 Personenfotografien projiziert wurden. Auf weitere Informationen hatten wir an dieser Stelle bewusst verzichtet. Wer eine fremde Person zum ersten Mal trifft, weiß zunächst nichts über sie. Der erste Eindruck ist äußerlich. Er ist visuell, spontan und unsere Reaktion darauf verrät in der Regel mehr über uns selbst als über das Gegenüber. Das entscheidende gestalterische Moment war die Animation der Personen auf den Bildern: Ein junger Mann bewegte Schultern, Arme und Oberkörper, eine ältere Frau begann zu lächeln, eine andere Person drehte sich langsam mit gespanntem Bogen und eingelegtem Pfeil auf die BesucherInnen zu. Die Bewegungen erzeugten einen Moment der Verblüffung und des Erstaunens, der die Bereitschaft zum Innehalten und zum längeren Betrachten verstärkte. Ein leise eingespieltes Atemgeräusch verhinderte, dass der Raum in absolute Stille getaucht war.

Im mittleren Raum informierte ein großformatiger Wandtext über Entstehung und Intention der Ausstellung. Dazu wurden die recherchierten Begegnungsszenarien vorgestellt. Neben einer persönlich formulierten Einleitung ließen sich auf ausliegenden Tablets sechs Erzählungen anwählen. Diese waren mit den Oberbegriffen „Angst“, „Empathie“, „Körper“, „Kunst“, „Ambivalenzen“ sowie „Wandel“ versehen. Zu ausgewählten Fotografien wurden über Kopfhörer Geschichten, biografische Fragmente und Begegnungsformen eingespielt. In die Texte waren zahlreiche Originalzitate aus Reiseberichten und Tagebüchern eingearbeitet.

Im dritten Teil der Ausstellung standen drei Overheadprojektoren. Dazu lagen 158 Folien aus, deren Gestaltung an Karteikarten angelehnt war. 149 Folien zeigten Personen der indigenen Bevölkerung Südamerikas, auf sieben Folien waren die ausgewählten Fotografen zu sehen, auf zwei weiteren Expeditionstrupps. Die Vermerke unter dem Stichwort „Verknüpfung“ ermöglichten es den BesucherInnen, Aufnahmen, die miteinander in Beziehung standen, nebeneinander zu betrachten. So existierten in einigen Fällen mehrere Bilder derselben Person, teils aus unterschiedlichen Perspektiven, seltener in verschiedenen Jahren und von unterschiedlichen Fotografen aufgenommen. Weiterhin fanden sich auf den Abbildungen verwandte Personen, es gab Menschen, die Teil der gleichen Geschichte waren und es gab natürlich die Verbindung zwischen Fotografierten und Fotograf. Bilder und Textbausteine auf den Folien ließen sich somit zu einer größeren Erzählung ergänzen. Die in den ersten beiden Räumen gezeigten Fotografien waren auf diesen „Karteikarten“ ebenfalls vorhanden. Neben dem Wiedererkennungseffekt, dem Suchen nach Zusammenhängen, der Archivanmutung sowie dem Betrachten der neu hinzugekommenen Aufnahmen führten die Folien den BesucherInnen noch einmal vor Augen, was bisher vor allem im Wandtext benannt worden war: Wie groß die Menge der vorhandenen Bilder und wie klein die Menge persönlicher Angaben über die abgebildeten Menschen ist. Fragmentarisierung und Reduzierung, aber auch Standardisierung und das Streben nach Vergleichbarkeit wissenschaftlicher Daten wurden ebenso sinnfällig wie unterschiedliche Bildsprachen der Fotografen sowie das je nach Forscher unterschiedlich ausgeprägte Bemühen, auch individuelle Informationen zu dokumentieren.

Berührungspunkte statt Dogmatik

Ziel der Ausstellung war es, sowohl die Momente der Bildentstehung und -verwendung zu inszenieren als auch konkretes Wissen über Einzelpersonen und Begegnungsformen zu vermitteln. Eine Lesart, die die entwickelte Dramaturgie anbot, war der Ablauf einer realen Begegnung: Dem erstmaligen Aufeinandertreffen (Raum 1) folgte die Phase sozialer Aushandlungsprozesse (Raum 2) sowie im Anschluss das Ordnen und Zusammenfassen der aus den beiden ersten Szenarien gewonnenen Eindrücke (Raum 3). Wer die Ausstellung in entgegengesetzter Richtung durchschritt, erlebte den Weg von der Materialmenge des Archivs hin zum „Verlebendigungsversuch“ einer unter Verwendung einer reduzierten Bildauswahl (re)konstruierten Erzählung.

Neben der großformatigen Darstellung waren mir zwei Punkte besonders wichtig. Zum einen sollten die Vielschichtigkeit, die Heterogenität und die Ambivalenzen der damaligen Begegnungen – und ihrer Resultate – spürbar werden. Zum anderen sollte die Interpretation des Gezeigten nicht von der ersten Texttafel an vorstrukturiert sein. Stattdessen wurden die vorhandenen Informationen auf eine Weise präsentiert, die den letzten Schritt – wie eine bestimmte Aufnahmeform, ein vorgefundenes Verhalten, eine historisch rekonstruierte Beziehung zu bewerten ist – den BesucherInnen überlässt (bzw. zumutet). Wer die eigene Erwartungshaltung somit von vornherein einseitig auf die Bewunderung von Forscherleistungen, auf kontextfreie Ästhetik oder auf postkoloniale Dekonstruktion oder gar Verurteilung ausgerichtet hatte, wurde womöglich enttäuscht. Doch sollte auf das Unbehagen, das komplexe Konstellationen mit sich bringen können, ebenso wenig verzichtet werden wie auf die Aufforderung zur eigenen Positionierung.


Dr. Michael Kraus ist seit 2013 an der Abteilung für Altamerikanistik der Universität Bonn tätig. Davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Völkerkunde der Philipps-Universität Marburg, wo er 2004 mit der Arbeit „Bildungsbürger im Urwald. Die deutsche ethnologische Amazonienforschung (1884 - 1929)“ promovierte. Im Anschluss arbeitete er u.a. als Kurator für die Ausstellungen „Novos Mundos – Neue Welten. Portugal und das Zeitalter der Entdeckungen“ (Deutsches Historisches Museum, Berlin 2007) sowie „WeltWissen. 300 Jahre Wissenschaften in Berlin“ (Martin-Gropius-Bau, Berlin 2010).


Seit mehr als zehn Jahren gestaltet das von Detlef Weitz und Sonja Beeck geführte Büro für Szenografie chezweitz Kunst- und Themenausstellungen. Unter anderem war es gestalterisch verantwortlich für die Jubiläumsausstellung „Modell Bauhaus" 2009 im Martin-Gropius-Bau, Berlin, und für die von der Kulturstiftung des Bundes initiierte Ausstellung "Arbeit. Sinn und Sorge“ 2011 im Deutschen Hygienemuseum Dresden. Fürdie Andy Warhol-Ausstellung „Other Voices, Other Rooms“ im Stedelijk Museum Amsterdam wurde das Büro 2011 mit dem Designpreis der Bundesrepublik Deutschland in Gold ausgezeichnet. Derzeit entwickelt chezweitz u.a. die neue Dauerausstellung des DB Museums in Nürnberg, ein interaktives „Europäisches Klassenzimmer“ für die Route Charlemagne der Stadt Aachen sowie - gemeinsam mit dem FEZ-Berlin - die Kinderausstellung „POP-UP Cranach“ in der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin.


Weiterführende Texte zu diesem Projekt finden Sie hier.