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ARCHIV HUMBOLDT LAB DAHLEM   (2012-2015)

Reisebericht / Projektbeschreibung

Neue Erzählformate für Sammlungsgeschichten

von Viola König, Andrea Rostásy und Monika Zessnik

Der Bericht von Johan Adrian Jacobsen1, der Ende des 19. Jahrhunderts im Auftrag des Berliner Völkerkundemuseums die amerikanische Nordwestküste und Alaska bereiste, ist ein eindrückliches Zeitdokument. Auf Geheiß von Museumsdirektor Adolf Bastian, möglichst „originale“, von der europäischen Kultur unbeeinflusste Gegenstände zu sammeln, hatte der selbst ernannte Kapitän rund 3000 Objekte nach Berlin gebracht. Sein Protokoll der Expedition zeichnet sich allerdings weniger durch genaue ethnografische Beobachtung, denn als Abenteuererzählung eines hartgesottenen Draufgängers aus.

Als Zeitdokument werden seine Aufzeichnungen Thema eines Ausstellungsmoduls im künftigen Humboldt-Forum sein. Zu erproben, wie der persönliche Bericht anschaulich vermittelt werden kann – und zwar nicht allein durch die von Jacobsen gesammelten Objekte, sondern durch medial-kontextualisierende Erzählweisen – war Ziel des Humboldt Lab-Projekts „Reisebericht“. Ein Experiment, das sich auch Problemstellungen der Präsentation und der Sammlungsgeschichte selbst widmen sollte. Dabei war von Anfang an gesetzt, dass zwei Arbeiten entstehen sollten, die keine didaktische mediale Kontextualisierung analog zu Ausstellungsinhalten entwickeln, sondern den Stoff aus dem 19. Jahrhundert in eine eigenständige künstlerische Leistung übersetzen.

Die Erforschung neuer Strategien der Wissensvermittlung stand also im Zentrum, als das Humboldt Lab 2013 einen zweistufigen Konzeptwettbewerb zur Umsetzung des Reiseberichts in ein Computerspiel sowie in ein Puppenspielvideo ausschrieb. Eine Jury wählte aus sieben eingeladenen Teams das Berliner Puppenspieltheater Das Helmi und die österreichische Künstlergruppe gold extra aus.

„Totem‘s Sound“ – Abenteuerspiel und Entdeckungstour von gold extra

Mit „Totem‘s Sound“ gestaltete gold extra eine Installation für das Ethnologische Museum, die aus einem Abenteuer-Computerspiel und einer Augmented-Reality-Präsentation bestand. Letztere konnte sich das Publikum mit einem Tablet in der Hand durch die Ausstellung wandernd selbst erschließen2. Beide Teile nahmen aufeinander Bezug.

Durch das Richten der Tablets auf einen an den Vitrinen angebrachten Marker3 wurde das Abspielen kurzer Filme initiiert. Fünf Objekte waren zu finden, die ihre Geschichte und Entdeckung selbst schilderten: eine Holzmaske, eine Kupferplatte, ein Kanu, ein Häuptlingsstuhl und ein Totempfahl. In den aufwendig gestalteten Videos „erzählten“ die Objekte launig mit vermeintlich eigener Stimme von damals und beleuchteten Themen, die von Mythologie, Potlatch und Tourismus über die Funktionen von Häuptlingen heute bis hin zur Ausbeutung der Natur in Gebieten der First Nations reichten.

Das im Post-Pixel-Stil4 gestaltete Computerspiel konnte vor Ort an einer Konsole gespielt werden. Es stellt das Erkunden der Umgebung und der Situation vom Spielprinzip ausgehend in den Mittelpunkt. Die BesucherInnen erleben im Spiel einen Tag mit Kapitän Jacobsen und besuchen ein Dorf des Volks der Haida in Kanada: Sie begegnen Schamanen, Tänzern, Kanufahrern, Wölfen und Moskitos. Unterwegs zwischen Sumpf und festlich geschmückten Häusern haben die BesucherInnen in jedem Spielkapitel eine andere Aufgabe zu lösen. Das Spiel ist auch nach Ablauf der Ausstellung als freier Download verfügbar.

Das Zusammenwirken beider Teile, des Tablets und des Spiels, die als Ausgangspunkt dieselben fünf Objekte hatten, war den KünstlerInnen wichtig. Damit konnten unterschiedliche Perspektiven präsentiert werden – nicht selten mit einer guten Portion Ironie. So versuchte gold extra den Blick Jacobsens zu spiegeln und mit heutigem Forschungsstand zu ergänzen, um auch unseren eigenen Umgang mit dem Fremden und Fremdartigen zu reflektieren.

„Der von einem Stern zum anderen springt“ – Puppenspielvideo von Das Helmi

Das Puppenspieltheater Das Helmi ist bekannt für seine höchst eigenwilligen selbst gefertigten Schaumstoffpuppen, mäandernden Improvisationen und eine politisch unkorrekte Anarcho-Ästhetik. Auch für seine erste aufwendige Filmproduktion „Der von einem Stern zum anderen springt“ nutzte es diese Elemente der Live-Performance. Die stets hinter ihren Puppen sichtbaren PerformerInnen griffen Eigenschaften Jacobsens auf und überzeichneten sie stark: Jacobsen als von den NordwestküstenbewohnerInnen verlachter Abenteurer, als frenetischer Kunstjäger oder sich verkannt fühlender Forscher, dem wissenschaftliche Ehrungen seinerzeit versagt blieben. Nicht zuletzt greift das Puppentheater im Film kritisch Themen auf, die sich durch eine objekthafte Erzählung allein im Museum nicht darstellen lassen: etwa Jacobsens Auftrag, für die „Völkerschauen“ in Hagenbecks Tierpark „Indianer“ aus Nordamerika nach Hamburg zu bringen.

In der Ausstellung konnten sich die BesucherInnen den Film auf einer großen Leinwand von einer gemütlichen Sitzfläche aus anschauen. Während der Produktion entstandene Zeichnungen, Storyboards und Bilder bedeckten die Rückwand der Sitzecke und zwei große Vitrinen waren von den Künstlern mit einem Arrangement aus Schaumstoffrequisiten des Films bestückt worden.

Alles verstanden oder nur gut unterhalten?

Kann man ein Dokument wie den Bericht des Adrian Jacobsen innerhalb einer musealen Ausstellung in zeitbasierten Medien künstlerisch interpretieren und dramatisieren, ohne den Stoff zu banalisieren? In der Realisierungsphase wurde dies immer wieder diskutiert. Wie vermeidet man Stereotypen in narrativen Formaten und wann ist es sinnvoll, sie gezielt einzusetzen? Native Americans werden bei den Helmis als zwitschernde Vögel ohne Namen dargestellt: zum einen als Spiegelung von Jacobsens Unvermögen, die ihm fremden Menschen zu unterscheiden, und zum anderen als Referenz zur Vorstellung wechselnder Identitäten, die es erlaubt, mal Vogel, mal Mensch oder auch mal ein Elch zu sein. Durch die dramaturgische Inszenierung kann die doppelte Kodierung nachvollziehbar werden und innerhalb der Ausstellungspräsentation neue Perspektiven eröffnen.

Die Fragen, die sich aus der Aufgabenstellung und der Umsetzung des „Reiseberichts“ ergaben, sind im aktuellen museologischen Diskurs und auch in Diskussionen zur medialen Wissensvermittlung virulent. Wie gelingt die Vermittlung seriöser Inhalte im Aufeinandertreffen von Museum, Medien und Kunst? Wie erreicht man die Ansprache und Partizipation jüngerer Zielgruppen, ohne dabei die älteren zu verlieren? Welche Formen der Vermittlung und Kommunikation brauchen mediale Präsentationsformen im Vorfeld, während der Ausstellung und in der Nachbereitung, live wie digital?

Ob das Computerspiel von gold extra oder der Film von Das Helmi im Museum funktionieren, ob diese Formate ausbaubar oder auf andere Wissenskontexte übertragbar sind – diese Evaluation steht noch aus. Anhand der hier entstandenen Prototypen ist es jedoch möglich, eine Analyse vorzunehmen, die in eine etwaige Übertragung der Arbeiten ins Humboldt-Forum einfließen kann.

Nach zwei Monaten Laufzeit und kontroversen Reaktionen hatte das Computerspiel beachtliche Aufmerksamkeit erregt. Etwa 12.000 Views auf den Download-Seiten, 3500 Downloads, 2200 Views des Trailers. Auch Menschen, die nicht ins Museum gehen bzw. die Ausstellung nicht gesehen haben und/oder nichts über Jacobsen und die Sammlung wussten, wurden über das auch online verfügbare Computerspiel dafür interessiert.5 Der mit der Entwicklung medialer Formate zur Wissensvermittlung verbundene Aufwand lohnt, wenn die Wirkung auf diese Weise weit über das Museum hinausgeht. Gute Vermittlungschancen ergeben sich aber auch aus direkten Begegnungen und unmittelbarem Austausch mit den beteiligten KünstlerInnen. Bei der im November 2014 im Ethnologischen Museum durchgeführten „Let’s Play-Session“ mit Mitgliedern von gold extra passierte mit den anwesenden Kindern wie Erwachsenen jedenfalls genau das, was sich Vermittler wünschen: Neugier wurde geweckt, Zusammenhänge entdeckt und eine Vermittlungsform erprobt, die sichtlich Spaß bereitete.


1 Johan Adrian Jacobsen: Capitain Jacobsen’s Reise an der Nordwestküste Amerikas, 1881–1883: zum Zwecke ethnologischer Sammlungen und Erkundigungen, nebst Beschreibung persönlicher Erlebnisse. Für den deutschen Leserkreis bearbeitet von Adrian Woldt, Leipzig 1884. Reprint Hildesheim 2013

2 gold extra nutzte die Augmented Reality App Aurasma.

3 Augmented Reality Marker: Das Muster der Markierung löst eine Sequenz am Tablet aus, in diesem Fall ein Video mit Transparenz, durch die man das originale Artefakt und den Marker noch betrachten kann. In dieser Überblendung entsteht die „erweiterte Wirklichkeit“, die Augmented Reality.

4 Der Pixel-Stil prägte die ersten Computerspiele. Aufgrund von technischen Limitationen gab es in der Spielegrafik nur eine geringere Farbauswahl sowie eine stark gerasterte Darstellung von Figuren etc. Die Figuren waren mit wenigen Bildern animiert. Der Post-Pixel-Stil wurde Mitte der 2000er Jahre populär und greift bewusst auf Pixelgrafiken zurück. Vor allem bei Spielen auf mobilen Plattformen bieten Post-Pixel-Grafiken eine Alternative, um die Darstellung der Grafik flüssig erscheinen zu lassen und den Prozessor nur gering zu belasten. Über diese technische Komponente hinaus wird der Post-Pixel-Stil bewusst als ästhetisches Mittel zur Abstraktion verwendet.

5 Eine Gamer-Stimme aus den USA: „What Totem's Sounds ends up being is a slice of enjoyable criticism of museums or, at least, how they conducted their worldly gatherings and prescribed to the colonialist attitudes of the time. It's an effort to make us think about the historical foundations our civilizations are built upon, and how we might prioritize our pursuit of cataloging the world above the lives of native people." (Christ Priestman, Kill Screen).


Prof. Dr. Viola König ist Direktorin des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin.

Andrea Rostásy ist bildende Künstlerin und Medienkuratorin.

Monika Zessnik ist Kuratorin für Amerikanische Ethnologie und Kommunikation am Ethnologischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin.


Weiterführende Texte zu diesem Projekt finden Sie hier.