HINWEIS

Diese Website nutzt für statistische Erhebungen und zur Verbesserung des Internetauftritts das Webanalysetool Piwik. 

Aktuell wird ihr Besuch von der Piwik Webanalyse erfasst.

Nein, ich möchte nicht, dass mein Besuch erfasst wird.

ARCHIV HUMBOLDT LAB DAHLEM   (2012-2015)

[Offene] Geheimnisse / Positionen

Relationale Geheimnisse

von Anita Herle

Melanesische Techniken des Geheimhaltens und Enthüllens. Über den Nutzen anthropologischer Forschung für die kuratorische Praxis.

MuseumsbesucherInnen wie auch das Fach der Anthropologie selbst sind schon lange von Geheimhaltung, geheimem und sakralem Wissen fasziniert; das belegen die zahlreichen Untersuchungen von Geheimbünden ebenso wie die enorme Zahl von Objekten aus diesem Zusammenhang in den Museumssammlungen. Das Projekt „[Offene] Geheimnisse“ des Humboldt Lab Dahlem ist ein Anstoß, sich mit dem Potenzial der Ausstellung sakraler Objekte im Museum auseinanderzusetzen, und es experimentiert dabei mit verschiedenen Medien und Prozessen, die geheime/sakrale Objekte sichtbar machen könnten. Gestützt auf die Zusammenarbeit mit Torres-Strait-InsulanerInnen und KollegInnen im pazifischen Raum, untersucht dieser Aufsatz in aller Kürze melanesische Techniken des Geheimhaltens und Enthüllens und vergleicht sie mit den Prozessen des Ausstellens im Museum. Welche „Geheimnisse“ werden enthüllt, und wem? Welcher Nutzen lässt sich für die kuratorische Praxis aus der anthropologischen Forschung ziehen?

Auf den Torres-Strait-Inseln besteht – wie in ganz Melanesien – ein Hang dazu, auf bestimmte Wissensarten Besitzrechte geltend zu machen, den Zugang zu ihnen zu beschränken und selektiv freizugeben. Der Prozess des Verbergens und darauf folgenden Enthüllens arkanen Wissens, oft Teil einer performativen Darbietung oder eines Rituals, ist von erstaunlicher Wirkmacht und einer dramatischen Präsenz, die Menschen und Objekte mit Kraft auflädt und starke emotionale Reaktionen auslöst. Nicht nur tote Gegenstände sind es, die Geheimwissen bewahren und weitergeben, auch die mit ihnen verbundenen Geschichten, Tänze, Musikstücke, Verzierungen des Körpers und Landschaften tun dies. Sie verweisen gewöhnlich auf die Ahnen und werden von komplexen Verantwortlichkeits- und Rechtssystemen bestimmt, die mit genealogischen Vorrechten, dem Geschlecht und mit persönlichen Vorlieben verknüpft sind. Geheimwissen ist keine intrinsische Eigenschaft – es wird erzeugt und über soziale Beziehungen gepflegt.

Objekte und Darbietungen enthalten und mobilisieren – oft simultan – unterschiedliche Wissensstände für unterschiedliche Zuschauergruppen. Das Wissen ist verschachtelt und die Grenze zwischen dem Profanen und dem Sakralen durchlässig, wandelbar und kontextabhängig. Die Torres-Strait-InsulanerInnen sind zum Beispiel für ihre aufwendig choreografierten Tänze bekannt, in die tragbare „Tanzmaschinen“ einbezogen werden: gegliederte Ornamente, die auf Elemente der Natur wie die Sterne oder Meereswesen verweisen. Diese Tänze kommen zu weltlichen wie zeremoniellen Anlässen zur Aufführung und sind mit speziellen Geschichten, Totems, Orten und Ereignissen verbunden. ZuschauerInnen können einzelne Elemente der Darbietung leicht entschlüsseln, aber relativ wenige begreifen das esoterische „Innen“-Wissen, auf das oft ebenfalls angespielt wird. In anderen Fällen sind Einzelne möglicherweise in das Geheimwissen eingeweiht, dürfen aber nicht darüber sprechen.

Sakrale Objekte sind als solche nicht unbedingt geheim, und je nach Kontext kann ein und dasselbe Objekt einmal als sakral, ein anderes Mal als geheim betrachtet werden. In vielen Gegenden Melanesiens werden mit Kraft aufgeladene Objekte geopfert, zerstört, weggeworfen oder an Außenstehende verkauft, sobald sie ihre rituelle Bestimmung erfüllt haben. Die Malanggan-Masken aus Neuirland stellen ein herausragendes Beispiel für Objekte dar, deren Potenz und Wert sich auf die religiösen Umstände beschränkt, für die sie angefertigt wurden. Andererseits können Objekte wie als Auftragsarbeit angefertigte Modelle sakral umgedeutet werden. Zu den wichtigsten Objekten von den Torres-Strait-Inseln in der umfangreichen Sammlung des Museum of Archaeology and Anthropology (MAA) in Cambridge gehört ein Paar Malo-Bomai-Masken, die im Jahr 1898 von dem Anthropologen Alfred Haddon auf der Insel Mer in Auftrag gegeben wurden. Malo war der vorherrschende Held des Kults, ein agad (Gott), der mit einer machtvollen religiösen Bruderschaft in Verbindung gebracht wurde. Die Masken, ursprünglich aus Schildkrötenpanzern konstruiert, wurden fern der missbilligenden Blicke der Missionare und Nicht-Initiierten insgeheim von Wano und Enoch angefertigt, aus Pappe von Alfred Haddons Reisekisten. Die Anfertigung der Masken führte zu einer Nachstellung der Malo-Bomai-Zeremonien, an der sich zahlreiche Männer der Meriam aktiv beteiligten. Ausgewählte Aspekte eines geheimen, angeblich vergessenen Initiationsrituals wurden sichtbar gemacht. Die maskierten Tänzer wurden fotografiert und gefilmt und die sakralen Malo-Bomai-Lieder auf Wachszylinder aufgezeichnet. Dieses Beispiel belegt, wie wichtig es ist, bei der Beantwortung der Frage, welche Aspekte der Bestandteile des Geheimwissens enthüllt werden dürfen, das aktive Handeln der Einheimischen mit einzubeziehen.

In Ermangelung erhaltener älterer Exemplare sind diese Pappmasken heute für viele InselbewohnerInnen sakrale Objekte. Als das MAA eine Ausstellung zur Feier des hundertsten Jahrestages der anthropologischen Expedition aus Cambridge in die Torres Strait in Abstimmung mit Vertretern der InsulanerInnen organisierte, baten wir um Rat über den Umgang mit den Masken. Dabei ging es weniger um deren Zurschaustellung als um die mit ihnen verbundenen Geschichten, die Ankunft und Verlauf von Malo-Bomai auf der Insel Mer umreißen und bis heute sozio-politische Auswirkungen haben. Der Text, der Malo-Bomai beschreibt, entstand mithilfe des Inselvorstehers Ron Day und verschiedener Inselältester. Der Beratungsansatz, der im Entstehen der Ausstellung entwickelt wurde, war außerordentlich produktiv. Er bot Möglichkeiten für den interkulturellen Austausch und führte zu zahlreichen, noch heute andauernden Gemeinschaftsprojekten.

Viele anthropologische Analysen von Geheimhaltung und sakralem Wissen befassen sich mit politischer Macht und der Aufrechterhaltung von Kontrolle von Eingeweihten über Nicht-Eingeweihte, von Männern über Frauen und von Ältesten über die Jugend. Auf diese Weise erkennen AnthropologInnen die sich gegenseitig bedingenden Macht- und Wissensverhältnisse innerhalb der Gemeinschaften an, in denen sie arbeiten. Ebenso zur Kenntnis nehmen müssen wir die asymmetrischen Macht- und Wissensverhältnisse zwischen Museen und den Gemeinschaften, die in Museumssammlungen und -ausstellungen abgebildet werden. Das Projekt „[Offene] Geheimnisse“ schließt daher zugehörige politische und ethische Rücksichten mit ein. Während Fragen kuratorischer Befugnisse und der Komplexität gemeinschaftlicher Forschung viel diskutiert wurden, konnten jüngste Arbeiten das Potenzial beidseitig produktiver Beziehungen zu unseren KollegInnen und AssistentInnen im pazifischen Raum und anderswo aufzeigen.

Welche Art Geheimnisse könnte eine Ausstellung im Museum also enthüllen? Das Humboldt Lab experimentiert auf theatralische Weise mit Techniken des Verbergens und Enthüllens. Abgeschirmte Areale schränken den Blick der BesucherInnen ein, Milchglas wird kurz durchsichtig und macht sakrale Flöten der Sepik sichtbar. Tjurungas, geheime Objekte, die für die Aborigines Zentralaustraliens große Bedeutung haben, werden über Gipsabgüsse, anthropologische Zeichnungen und Veröffentlichungen wiedergegeben. Die Schaukästen sind faszinierend und betonen gleichermaßen die experimentellen Aspekte ritueller Vorgänge und ihrer Zurschaustellung im Museum. „[Offene] Geheimnisse“ macht Vorgänge sichtbar, die zur Enthüllung esoterischen Wissens führen, aber obgleich die BesucherInnen beschränkt zugängliche Objekte sehen dürfen, bleiben Inhalt oder Substanz des mit ihnen verbundenen Geheimwissens verborgen.

Angesichts der ontologischen Grundlagen verschiedener Wissenssysteme können Museen die vielfältigen Bedeutungen von Objekten wie sakralen Flöten und Tjuringas nie ganz entschlüsseln. Und den verschiedenen anthropologischen Moralcodices nach wäre so ein Versuch auch unangemessen. Aber dennoch fungieren die Objekte aus den Sammlungen der Museen weiter als Vermittler zwischen den Gemeinschaften ihrer Herkunft, dem Museumspersonal und der breiten Öffentlichkeit. Feldforschung sowie Abstimmung mit KollegInnen im pazifischen Raum und anderswo, in Verbindung mit einer sachkundigen und dabei weniger besitzergreifenden Art des Kuratierens, schaffen Gelegenheit, Interesse, Respekt und Verständnis für andersartige Wissenssysteme, Religionen und Bräuche auszubilden und dabei zugleich Einsichten in unsere eigenen fachlichen Positionen und Perspektiven zu gewinnen.

Übersetzung aus dem Englischen von Robin Detje


Dr. Anita Herle ist Senior Curator für World Anthropology am Museum of Archaeology and Anthropology der University of Cambridge (UK). Im November 2014 nahm sie an dem Workshop „Discussing [Open] Secrets“ in Berlin-Dahlem teil.