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ARCHIV HUMBOLDT LAB DAHLEM   (2012-2015)

Gedankenscherz / Projektbeschreibung

Barocke Bildwelten interaktiv erleben

von Andreas Pinkow

Für das Humboldt-Forum ist eine raumgreifende, mehrteilige Installation im Eingangsbereich geplant, die thematisch unter anderem auf zwei historische Bezüge verweist: auf die kurfürstlich-königliche Kunst- und Naturalienkammer des Berliner Schlosses von Kurfürst Joachim II. aus dem 16. Jahrhundert und auf Gottfried Wilhelm Leibniz, der die von ihm im Jahr 1700 gegründete „Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften“ in Verbindung zu dieser historischen Kunstkammer gesetzt hatte.

Die Gesamtinstallation wird sich auf 42 Nischen verteilen, die sich in den über die drei Stockwerke erstreckenden, umlaufenden Galerien befinden. Die Inszenierungen in diesen Nischen sollen spielerisch auf die Ausstellungsstücke der ethnologischen Sammlungen verweisen, aber auch das Sammeln an sich, die Methoden und Formen der Aneignung kritisch befragen. So können beim Betreten auf einen Blick die Grundidee des Humboldt-Forums erlebbar gemacht, aber auch Bezüge zu den Sammlungen, den Ausstellungen und dem Veranstaltungsprogramm hergestellt werden.

Leibniz skizzierte die Kunstkammer in seinem 1675 veröffentlichten Text „Drôle de Pensée“ (Gedankenscherz) als ein äußerst lebendiges, unterhaltsames und in der Form noch nie dagewesenes Zusammenspiel von Sammeln und Forschen, Unterhalten und Vermitteln. Die künftige Installation soll sich auf diese Kunstkammer beziehen, deren geistige Dimension dem Grundgedanken des Humboldt-Forums entspricht: Hiernach erschließen sich durch das vergleichende Sehen von Kunst, Architektur und Wissenschaft neue Zusammenhänge und verdeutlichen die globalen Beziehungen zwischen Deutschland und der Welt.

Die Übertragung des Textes in eine interaktive Inszenierung im Rahmen des Humboldt Lab war exemplarisch dazu gedacht, die Idee des Humboldt-Forums Pars pro Toto bereits im Vorfeld erlebbar zu machen. Hierfür entwickelten wir einen Projektvorschlag und wurden von der Humboldt Lab-Leitung zur Durchführung beauftragt.

Wischen, morphen und andere interaktive Navigationsmethoden im digitalen Raum

Bei Leibniz wie in der Kunstkammer spielen die unterschiedlichen Aspekte des Sehens eine grundlegende Rolle. Das Humboldt Lab-Projekt „Gedankenscherz“ wollte darum mit den herkömmlichen Sehgewohnheiten brechen und den BesucherInnen einen neuen Zugang zu historischen Bildwelten ermöglichen. Um eine Entsprechung für die von Leibniz über alle Disziplinen hinweg reichenden Interessen und seine Freude an überraschenden Entdeckungen zu finden, wurden neue digitale Räume entwickelt.

Die kühnen Ideen von Leibniz gehen mit den parallelen wissenschaftlichen Entdeckungen im 17. Jahrhundert einher: So waren Teleskop und Mikroskop gerade erst erfunden worden und der Blick in die Sterne oder die Vergrößerung kleinster Teilchen waren bahnbrechende Neuerungen. Um die Vorstellungskraft der heutigen BetrachterInnen zu stimulieren, wählte das Ausstellungsteam Zeichnungen aus dieser Zeit aus und verwandelte sie in dreidimensionale Formate: Räume erhielten Tiefe, Figuren Volumen, Gegenstände Details. Zusätzlich wurden die im ursprünglichen Bild nur angedeuteten Prozesse durch Animationen zum Leben erweckt.

Der Zugang zu den neu geschaffenen Bildwelten griff den mittlerweile geläufigen Umgang mit digitalen Bildern auf, indem über intuitive Navigationsmethoden ein Vergrößern und Verkleinern, Vor- bzw. Zurückblättern ermöglicht wurde. Als Spielfläche diente die Vorderseite eines drei mal drei Meter großen Kubus, dessen Holzkonstruktion mit einer transparenten Gaze verkleidet war. Eine kreisrunde Projektionsfläche gewährte scheinbar den Einblick in sein Inneres. Tatsächlich wurde der Innenraum in Echtzeit als digitaler Raum – ähnlich wie bei einem Videospiel – generiert und reagierte auf die Bewegungen des Besuchers. Mit der Verzerrung der Perspektive entstand der Eindruck eines Fensters. In der Darstellung des Kubus-Innenraums wiederum schienen kleine Pixel zu schweben, die sich immer wieder zu neuen Darstellungen der historischen Bildmotive zusammensetzten.

Die BesucherInnen waren nun aufgefordert, durch einfache Handbewegungen die Bildwelten zu erkunden und sich von den entstehenden Effekten überraschen zu lassen. So diente beispielsweise ein ausgestreckter Arm als Taschenlampe, mit der sich die dargestellten Ausstellungsstücke in der historischen Kunstkammer beleuchten ließen. Oder verschiedene Muschelformen, die auf historischen Gemälden zu sehen waren, konnten durch eine Wischbewegung miteinander verschmolzen werden. Je mehr Themenbereiche aufgedeckt wurden, umso stärker erschloss sich das multiperspektivische Zusammenspiel der Animation. Zum besseren Verständnis lief neben dem Kubus ein Kurzfilm, der diverse Anwendungsmöglichkeiten zeigte.

Für die technische Umsetzung war ein Hochleistungsrechner mit einer eigens programmierten Software nötig, der die Simulation des Kubus-Innenraums und den sich aus Einzelpartikeln zusammengesetzten Bildmotiven in Echtzeit renderte und per Zufallsgenerator ständig neu kombinierte. Eine Kamera über der Leinwand erfasste den Besucher, um den Fluchtpunkt für die dreidimensionale Erscheinung 1:1 auf seine Position vor der Projektionsfläche zu errechnen. Darüber hinaus wurden die Gesten in Steuerungsbefehle umgesetzt und reaktiv verschiedene Animationen dargestellt; sphärische Sound-Effekte begleiteten die Bewegungsabläufe.

Kontextualisiert wurde die digitale Darstellung der historischen Bildwelten durch ein Glossar von Begriffen, welche die Figur Leibniz und die historische Kunstkammer mit den zeitgenössischen Aspekten des Humboldt-Forums verbanden und die BesucherInnen in die Lage versetzten, auf einfache Weise das Thema der Installation zu verstehen.

Computergesteuerte Anwendung zum Zweck neuer Erkenntnisse

Die multioptionalen Zugangswege der Inhalte und die nicht-lineare Erzählweise waren beabsichtigt, forderten aber eine außergewöhnlich hohe Experimentierlust vom Publikum. Wer sich darauf einließ, konnte den überbordenden Ideenreichtum von Leibniz erleben und mehrdimensionale Erläuterungen erhalten. Die Möglichkeit zur forschenden Interaktion bot insbesondere einer jüngeren und technisch aufgeschlossenen Zielgruppe einen neuen Zugang zum historischen Material, das Fachpublikum und die „Museumsfreunde“ erlebten vertraute Motive in einem neuen Zusammenhang. Ein ungeplanter Nebeneffekt war, dass viele BesucherInnen gar nicht selbst den „Gedankenscherz“ ausprobieren wollten, sondern eher daran interessiert waren, andere bei der Anwendung zu beobachten – so wurde der Raum vor der Installation zu einer Art Bühne.

Das Humboldt Lab-Projekt „Gedankenscherz“ bezog sich nur mit einzelnen Verweisen auf die ethnologischen Sammlungen, da es stellvertretend für die Kunstkammer im Foyer des zukünftigen Humboldt-Forums als Teil eines Ensembles aus 42 Inszenierungen geplant ist. Der Entwicklungsprozess mit einem vielköpfigem Team aus WissenschaftlerInnen, MedienkünstlerInnen, ProgrammiererInnen und SzenografInnen war ergebnisoffen angelegt, da die Brechung gängiger Sehgewohnheiten mit der technisch sehr aufwendigen Entwicklung einer eigenen und innovativen Gestensteuerung Hand in Hand ging. Aus den Testaufbauten und Probeläufen ergaben sich immer wieder neue Darstellungs- und Wahrnehmungsoptionen. Das in Dahlem gezeigte Ergebnis war nur eine von vielen Umsetzungsmöglichkeiten und kann in Zukunft sowohl von einer höheren Steuerungskomplexität als auch um narrativere Varianten weiterentwickelt werden. In dem unkonventionellen Umgang mit historischen Bildwelten und der direkten Aufforderung an das Publikum zur interaktiven Navigation steckt in jedem Fall viel Potenzial.


Andreas Pinkow ist Kreativdirektor bei „Focus + Echo“. Das Büro für Konzeption und Szenografie ist spezialisiert auf Dramaturgie, Ausstellungs- und Mediendesign sowie Storyboard-Entwicklungen für Ausstellungen, Museen und innovative Großprojekte.


Einen weiterführenden Text zu diesem Projekt finden Sie hier.