Wissen erzählen / Positionen
„Wir haben viel mehr Geschichten, als wir erzählen können“
Unpubliziertes Wissen bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich machen: Viola König, Direktorin des Ethnologischen Museums, und die Kuratorin der Nordamerika-Sammlung Monika Zessnik im Gespräch über die Filmdokumentation „Wissen erzählen“.
Interview: Barbara Schindler
Wir wollen über die Entstehung des Projekts „Wissen erzählen“ sprechen. Wie kamen Sie, Viola König, auf die Idee zu diesem Filmprojekt?
Viola König: Die Idee entstand anlässlich eines sogenannten Kamingesprächs, das der Vorstand der Stiftung Berliner Schloss – Humboldt-Forum Manfred Rettig, ins Leben gerufen hatte, um das Humboldt-Forum und sein Konzept im weitesten Sinne beliebter bei Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich zu machen. Wir hatten für eines dieser Gespräche vorbereitet, dass mein Kollege Siegmar Nahser, der für Ost- und Nordasien zuständig ist, sein Magazin zeigt. Als er sich durch sein Magazin bewegte, fing er an zu erzählen, und zu erzählen und zu erzählen – und alle hingen an seinen Lippen. Auf die Objekte guckte man auch, aber vor allen Dingen hörte man sich an, was er zu den einzelnen Objekten so zu berichten hatte. Anschließend sagte Martin Heller, der gerade mit dem Humboldt Lab Dahlem angefangen hatte und auf der Suche nach Initialprojekten war: „Da muss man was draus machen!“ Als ich ihm dann erzählte, dass Siegmar Nahser nur einer von demnächst in Pension gehenden Kuratoren ist, war das Projekt „Wissen erzählen“ geboren.
Die Wahl des Erzählers fiel dann auf Peter Bolz. Im Film redet er sehr eloquent und flüssig, seine gut formulierten Erzählungen sind gespickt mit Anekdoten und exakten Jahreszahlen. Ist er bewusst ausgewählt worden?
König: Wir wussten bis dahin noch nicht – obwohl wir alle Herrn Bolz schon sehr, sehr lange kennen – dass er so ein genialer Geschichtenerzähler ist. Das zusätzliche Glück war, dass Herr Bolz im Unterschied zu anderen bereit zu diesem Experiment war, dass er gerade in Pension ging, dass alles in seinen letzten acht Monaten passierte. Und dass er schon einen Abstand hatte – ich denke jeder, der so 20, 30 Jahre in einem Museum gearbeitet hat, was ja eigentlich das ganze Leben ist, dass der am Ende seiner Dienstzeit anfängt, seine Perspektive leicht zu verändern. Wenn man Peter Bolz drei, vier Jahre früher interviewt hätte, wären bestimmte Statements anders rübergekommen.
Wie wurde der konzeptionelle Zugang dieser Videodokumentation erarbeitet und wie eng haben sie die Idee mit dem Filmteam zusammen weiter entwickelt?
Monika Zessnik: Das Team vom Humboldt Lab hatte das Produktions- und Regieteam nach einer kleinen Ausschreibung gemeinsam mit Peter Bolz ausgesucht. Die gesamte Konzeption und Organisation haben dann Peter Bolz, Janina Janke und Franziska Seeberg direkt miteinander entwickelt. Es gab einen Drehplan und der legte fest, über welche Objekte Peter Bolz berichten sollte.
König: Jedes Humboldt Lab-Projekt ist anders und es wäre schade, wenn es seinen experimentellen Charakter aufgeben würde. Wir haben es schon an den kurzen Gesprächen mit Markus Schindlbeck und Peter Junge gemerkt, die beide auch ausscheiden; die würden da völlig anders rangehen – und auch ich. Peter Bolz hat eine Möglichkeit gewählt.
Zessnik: Peter Bolz saß nicht vor der Steadicam und sprach ins Mikrofon, sondern er hatte das Produktionsteam vor sich, denen er erzählte. Quasi seinem Publikum.
König: Das hat die Sache so gut gemacht. Auch, weil sie ihn bewundert haben und ihm das auch sagten.
Monika Zessnik, Sie sind die Nachfolgerin von Peter Bolz. Er kam zur Wendezeit an das Ethnologische Museum und hat 1999 die Ausstellung der Nordamerika-Sammlung kuratiert. Diese wird mit seiner Pensionierung nach 15 Jahren nun in Vorbereitung auf den Umzug in das Humboldt-Forum zurückgebaut. Wie haben Sie dieses Humboldt Lab-Projekt erlebt?
Zessnik: Es war eine unglaubliche Möglichkeit, mich in verhältnismäßig kurzer Zeit in die Sammlung einzuarbeiten und viel mehr Hintergrundinformationen zu erfahren, als ich sonst je bekommen hätte. Als Herr Bolz hier anfing, kamen ganz viele Objekte nach Berlin zurück, die nach dem Krieg von der Sowjetunion nach Leipzig gebracht worden waren. Er konnte vieles neu aufarbeiten und die Sammlung aufbauen; all das schlägt sich in seinen Erzählungen nieder. Wir archivieren ja sonst auch alles. Akten, andere Dokumente, aber das hier – das ist institutionelles Wissen, das wäre für immer verloren gegangen.
Die Nordamerika-Sammlung umfasst ungefähr 30.000 Objekte. Peter Bolz hat ca. 180 Objekte filmisch dokumentiert. Fehlen hier wichtige Objekte bzw. wie gehen Sie mit der Lücke um?
Zessnik: Die beschriebenen Gegenstände waren unter anderem in der Dauerausstellung zu sehen und sind aus Objektgruppen, von denen wir 10, 20 Vergleichsobjekte haben. Wir werden nie ein enzyklopädisches oder vollständiges institutionelles Wissen haben, auch wenn wir das anstreben. Die Lücke ist auch in Ordnung.
Welche Bedeutung hat das Projekt für das Museum?
König: Uns war es von Anfang an ganz wichtig, dass wir innerhalb des Humboldt Lab neue Formate und Wirklichkeiten austesten und erst im nächsten Schritt gucken, was man daraus im Humboldt-Forum verwenden kann. Selbstverständlich will das Humboldt-Forum viele Besucher haben, aber zuerst wollten wir aus den ausgetretenen Pfaden raus und für uns selbst schauen, was machbar ist. Zu Beginn dieses Projekts stand wirklich die Kenntnis darüber, dass in einer Person unglaublich viel unpubliziertes Wissen steckt. Menschen gehen in den Ruhestand und nehmen ihr Wissen mit, es ist für das Museum verloren. Und das geht einfach nicht. Daraus entstand die Frage, wie bewahren wir das Wissen, das die Kuratoren in Jahrzehnten produzieren, wie behalten wir das im Haus, in der Sammlung. Das ist erstmal weit weg vom Besucher.
Zessnik: Ja, die Umsetzung und die Reaktionen waren nur zweitwichtig – das entstandene Material war das Wichtigste. Und das verschwindet nicht, weil es genauso Teil unserer Datenbank ist wie Fotos oder andere Wissensträger: Man kann es später abrufen und irgendwann digital in die Ausstellungen einspielen und so weiter.
Es ist geplant, das Magazin in Form eines Schaulagers in die künftige Ausstellung des Humboldt-Forums zu integrieren. Haben Sie schon eine genauere Vorstellung, wie das Filmdokument dort präsentiert werden kann?
König: Unser Ausstellungskonzept ist auf Flexibiliät angelegt und darauf, häufig zu wechseln. Die Schausammlung wird ein wichtiger Teil der Ausstellung sein. Hier zeigen wir in größerer Dichte das gesamte Material aus dem Bereich Nordamerika, also die Prärien und Plains. Zu Beginn wollen wir erstmal nur die Filmausschnitte von Herrn Bolz zur Verfügung stellen, die sich mit diesem Bereich befassen, egal ob im Magazin oder in der Ausstellung. Wir können uns jetzt theoretisch vorstellen, dass der Bereich der Prärien und Plains nach drei Jahren verschwindet und der Südwesten Amerikas in das Schaumagazin kommt. Dann würde man einen anderen Ausschnitt aus „Peter Bolz“ zu hören bekommen. Es kann aber auch sein, dass wir sie erst später in einem Ausstellungsmodul zum Einsatz bringen. Das ist völlig offen. Wir haben die Aufnahmen jetzt erst einmal und können sie in verschiedenen Varianten zum Einsatz bringen.
Zessnik: Wir wollen das Schaumagazin so aufbereiten, dass die Besucher verstehen, wie die Forschung an Objekte herangeht. Denn nach der „Tagesschau“ gilt das Wissen, das im Museum zugänglich gemacht wird, als glaubhaft. Je klarer wir machen, wie personalisiert die Informationsaufbereitung ist, desto besser. Denn jedes Wissen konstruiert sich aus einer subjektiven Haltung. Und es ändert sich.
Bislang sucht man auf der Website der Staatlichen Museen vergeblich nach Namen, Zuständigkeiten und Kontaktdaten von MitarbeiterInnen. Ist „Wissen erzählen“ ein Schritt dahin, diese sichtbar zu machen? Denn neben Informationen über die Sammlung und ihre Objekte erfährt man auch viel über Peter Bolz.
Zessnik: Da gebe ich Ihnen recht – das ist wichtig, weil ein Museum wie auch andere Kulturinstitutionen von den Personen lebt, die da arbeiten. Deswegen ist es für den Besucher interessant, das transparent zu machen. Denn eigentlich trifft das Publikum maximal auf das Aufsichtspersonal und die, die Vermittlung machen; im günstigsten Fall auf einen Kurator. Es ist natürlich schön, egal wie selbsterklärend man eine Ausstellung macht, wenn man was persönlich erzählt bekommt. Es geht ja um Kommunikation.
Frau König, Sie haben einmal in einem Interview gesagt: „Wir haben viel mehr Geschichten, als wir erzählen können“. Schließt sich mit diesem Projekt ein wenig die Lücke?
König: Das Lab-Projekt hat uns zum ersten Mal überhaupt darüber nachdenken lassen, wie wir persönliches und institutionelles Wissen konservieren könnten. Ich denke, wir sind erst am Anfang.
Prof. Dr. Viola König ist Direktorin des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin, davor war sie Direktorin des Übersee-Museums Bremen, Direktorin der Abteilung Völkerkunde des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover, Museumspädagogin am Rautenstrauch-Joest-Museum/Museumsdienst Köln. Sie ist Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin und der Universität Bremen sowie Gastprofessorin an der Tulane University, New Orleans.
Monika Zessnik ist Kuratorin für Amerikanische Ethnologie und Kommunikation am Ethnologischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin. Davor war sie Kuratorin für Vermittlung und Bildung der Staatlichen Museen zu Berlin, Leiterin Kommunikation am Ibero-Amerikanischen Institut und Projektkoordinatorin am Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
Barbara Schindler ist im Bereich der Kultur-PR tätig. Für das Humboldt Lab Dahlem betreut sie gemeinsam mit Christiane Kühl die Online-Dokumentation der Projekte.
Das Interview wurde im Juli 2014 geführt.