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ARCHIV HUMBOLDT LAB DAHLEM   (2012-2015)

Fotografien berühren / Positionen


Das ethnologisch-anthropologische Porträt

von Paul Hempel

Die Ausstellungsinstallation „Fotografien berühren“ wagt die Auseinandersetzung nicht mit irgendwelchen Bildern. Ausgerechnet jenem Genre wissenschaftlicher Fotografie wird eine Bühne geboten, das aus heutiger Sicht wie kaum ein anderes problematisch oder bestenfalls überholt erscheint: dem anthropologisch-ethnologischen Porträt.

Porträts bevölkern in großer Zahl und vielgestaltiger Form die Fotosammlungen ethnologischer Museen und Archive. Doch treten uns diese Bilder oft (gibt es eine Steigerungsform von stumm?) noch »sprachloser« entgegen als andere Fotografien. Besonders empörend ist, dass sie im Gegensatz zu Landschafts- oder Objektaufnahmen Menschen zeigen. Frauen, Männer und Kinder blicken uns einmal mehr, einmal weniger gezwungen, einmal mehr, einmal weniger bekleidet entgegen und sagen uns buchstäblich nichts. Am deutlichsten verstört diese fehlende Ansprache bei den streng formalisierten Typenaufnahmen oder „Rasseporträts“, jenem Zwittergenre, das den offenen Grenzverlauf zwischen Ethnologie und physischer Anthropologie im langen 19. Jahrhundert so anschaulich verkörpert.

Bei der flüchtigen Durchsicht von Fotobeständen werden diese Bilder gerne meist beiseite gelegt – als Altlasten aus einer fernen, mitunter unrühmlichen Vergangenheit. Erst recht disqualifizieren sich diese Aufnahmen für Ausstellungen, wenn sie nicht gerade als Zeugen eben jener Geschichte aufgerufen werden –, dabei aber allzu oft ihr Schweigen nicht brechen (dürfen). Stattdessen werden sie gerne in ein neuerliches Raster gepresst, indem sie zu Ikonen einer kolonial-chauvinistischen Weltanschauung stilisiert und auf diese Rolle reduziert werden.

Eine solche Kapitulation vor dem zweifellos sperrigen Material ist in mehrfacher Hinsicht kurzsichtig. Es wird übersehen, dass gerade diese Bilder schon zu ihrer Zeit Ausdruck lebhafter Auseinandersetzungen um angemessene visuelle Methoden und Fragestellungen waren. Einige der damals formulierten Problemstellungen müssen uns heute gar nicht so abwegig erscheinen: Wie lassen sich ethnologisch-anthropologische Daten definieren, erfassen und transportieren? Wie stehen Kultur und Körper in Beziehung und sind diese Konzepte aufeinander abbildbar? Wie objektiv, wie naturgetreu, wie authentisch sind diese Bilder? Wie autonom, wie aussagekräftig sind sie, sobald sie in andere Kontexte überführt werden? Dies alles sind Fragen, die wohlgemerkt von den Bildproduzenten selbst aufgeworfen wurden, im Umgang und in der Auseinandersetzung mit ihren Fotografien. Nicht mit allen damals gefundenen Antworten müssen wir uns heute gemein machen, doch sollten wir die Bilder entsprechend ernst nehmen. Dazu gehört, sie nicht nur als Ausdruck festgefügter Vorstellungen zu betrachten, sondern immer auch als Auslöser einer der treibenden Kräfte in der Wissenschaft schlechthin, die in wissenschaftlichen Ausstellungen so selten thematisiert wird: dem Zweifel.

Warum sprechen wir insbesondere den Porträtaufnahmen dieses kreative Potenzial so gerne ab? Vermutlich, weil sie in ihrer formalen Strenge so selbstsicher und autoritär daherkommen. Um diese Fassade zu durchbrechen, erscheint eine Öffnung der Bilder notwendig, wie sie die Ausstellung „Fotografien berühren“ in mehrfacher Hinsicht und auf multidimensionaler Ebene leistet. Der Besucher wird mit den vielfältigen Entstehungskontexten der Porträts, mit berührenden biografischen Details und auch mit Momenten der Verstörung und der Konfusion im Umgang mit dem Bildmaterial konfrontiert. Der Ausstellung gelingt es damit, den methodischen Zweifel, den viele damalige Akteure mit ihrer Kamera ins Feld hinein- und aus dem Feld herausgetragen haben, bei der heutigen Präsentation der Bilder mit zu transportieren.

Mit solchen Ausstellungskonzepten, die nicht nur das Produkt, sondern auch den Prozess der wissenschaftlichen Bildproduktion und Verwertung in den Fokus stellen, könnte sich ein ethnologisches Wissenschaftsmuseum (respektive das Humboldt-Forum) deutlicher und offensiver als fragende, denn als wissende Institution profilieren.


Paul Hempel M.A. ist Mitarbeiter am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er studierte Ethnologie, Volkskunde sowie Vor- und Frühgeschichte. Im Rahmen seiner Dissertation zum Einsatz visueller Medien auf Forschungsreisen in Brasilien zwischen 1883 bis 1914 beschäftigt er sich insbesondere mit dem Stellenwert der Fotografie bei der Produktion und Verbreitung ethnologischen Wissens. Sein hier veröffentlichter Kommentar basiert auf dem Impulsreferat, das er in einem internen Evaluierungsworkshop des Humboldt Lab Dahlem hielt.


Transmissões e contato: Übertragung und Berührung

von Wolfgang Schäffner

Michael Kraus stellt sich der zentralen Herausforderung, wie historisches Forschen über fremde Kulturen auf der Basis von Objektsammlungen in ein modernes „Arbeiten mit“ den Kulturen übertragen werden kann. Dabei geht es insbesondere darum, an den Objekten und ihrer Originalitätsfokussierung die Prozesse der Übertragung sichtbar zu machen, denen sie ihre Existenz verdanken. Das Projekt zeigt dies in seinem Umgang mit historischen Fotografien: Das „Berührende“ der Fotografien ist dabei nicht etwa das „Original“ historischer Abzüge, das im Sinne des „punctum“ der Fotografie „aus seinem Zusammenhang hervor(schießt), um mich zu durchbohren“ (Roland Barthes¹). Der radikale Ansatz von „Fotografien berühren“ besteht darin, dass die Fotografien als historische Objekte selbst nicht mehr präsentiert werden. Stattdessen geht es um den Weg, den diese Fotografien aus dem Amazonasgebiet zu uns nehmen, der eine doppelte räumliche und zeitliche Distanz überbrückt.

Die historischen Fotografien werden in drei unterschiedliche medientechnische Formate übertragen: Zum einen in die bürokratische Registratur eines Datensatzes, der die Fotografien der Indigenen mit Metadaten versieht (ethnische Gruppe, Name, Ort, Datum der Fotografie, Fotograf etc.) und durch Overheadprojektoren mittels eines technischen Mediums präsentiert, das in der Entstehungszeit der Fotografien entwickelt wurde: Eine besondere Kompetenz für diese Projektoren hatte in den 1920er Jahren die Düsseldorfer Firma Liesegang. Damit werden die Fotografien in ein Präsentations- und Übertragungssystem eingebunden, das ihre Materialität entscheidend verändert: Die Fotografien werden durch das Licht zu Akteuren, sie beginnen selbst zu leuchten und übertragen sich daher als neues aktives Medium. Diese Aktivierung des Ausgangsmediums bestimmt in anderer Weise auch die Animation der Fotografien im 1:1 Großformat. Die fotografischen Stills werden durch digitale Algorithmen in bewegte Bilder verwandelt. Sie simulieren auf der Basis von Fotografien filmische Bewegungen, indem sie nur die Personen animieren, die im Vordergrund stehen. Damit wird die Fotografie im Medium des Digitalen zu einem Objekt, das eine neue animierte Gegenwärtigkeit erhält, wie sie das Foto als historisches Medium gerade ausschließt. Und als drittes Szenario präsentieren die Tablets in einer veränderten Ontologie (statt Identifizierungskategorien nun „Angst“, „Empathie“ oder „Körper“) vor allem auch eine technische Erneuerung des Berührens. Die Touchscreens erlauben und machen gerade das notwendig, was die historische Fotografie eigentlich verbietet: das tatsächliche Berühren. Das „direkte“ Berühren der Fotografie ermöglicht den Zoom in Details und das Bewegen durch und über die Fotografien hinweg. Damit überbietet das digitale Medium eine übliche Berührung gerade dadurch, dass es die Materialität und Originalität der Fotografie vermeidet. Darüber hinausgehend wäre das Tablet als netzgestütztes Medium zugleich in der Lage, einen Zugriff auf jedwede Daten und Fotografien zu erlauben. Insoweit würde dies sogar ermöglichen, die Übertragungen aus Amazonien nach Europa in eine topologische Netz-Ordnung zu überführen, in der es keinen Ursprungsort mehr gibt. Wenn der Präsentationsort selbst mobil wird, erledigen sich die den europäischen Sammlungen außereuropäischer Objekte inhärenten Trennungen von Fundort und Museum.

Die historische Serie von Medien, die Michael Kraus und chezweitz, ausgehend von der Fotografie, als Übertragungsmedien vorführen, bestimmt und verändert in entscheidender Weise das Arbeiten über eine Kultur, wie es sich in den Fotografien ethnischer Individuen aus Amazonien dokumentiert. Das neue Arbeiten mit den Prozessen der Übertragung und mit deren Medien verändert die Szenarien in entscheidender Weise, sie werden disloziert, können ihre eigenen Transmissionsprozesse durch Raum und Zeit sichtbar machen und damit auch deren fundamentale Differenz auflösen. Das sind die Koordinaten für ein neues Arbeiten mit einer Kultur, das unterschiedliche Orte symmetrisch miteinander verbindet. Und vielleicht gehören dann als Vervollständigung einer Präsentation von Übertragungsprozessen neben die Fotografien und Objekte auch die Jaguarfelle, das Holz und der Kautschuk als Dinge, die nach Europa transferiert wurden und die auch umgekehrt in Amazonien in Form von Eisenbahnen oder Telegrafenlinien als Medien der Übertragung Spuren hinterlassen haben. Die Antwort dieser experimentellen Ausstellung darauf heißt, dass Fotografien berühren, oder, anders gesagt: Sie kommen in unserer medientechnischen Gegenwart nur dann an, wenn deren Austausch- und Übertragungsprozesse den Weg, den sie durch Zeit und Raum zurückgelegt haben, sichtbar machen können.

 

1 Roland Barthes. Die helle Kammer. Bemerkung zur Fotografie. Frankfurt am Main 1985.


Prof. Dr. Wolfgang Schäffner hat seit 2009 an der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin den Lehrstuhl für Wissens- und Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft inne, er ist Sprecher des Exzellenzclusters der HU „Bild Wissen Gestaltung. Ein Interdisziplinäres Labor“ und seit 2013 Direktor des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik der HU. Daneben hat er seit 2003 eine Honorarprofessur an der Fakultät für Architektur, Design und Urbanismus der Universidad de Buenos Aires, wo er auch Direktor des Walter-Gropius-Forschungsprogramms ist. Sein hier veröffentlichter Kommentar basiert auf dem Impulsreferat, das er in einem internen Evaluierungsworkshop des Humboldt Lab Dahlem hielt.